Wohin sind die Läden im Stadtzentrum verschwunden?

Neulich erhielt ich einen Newsletter mit folgenden Zeilen:

Als ich vor etwa zwanzig Jahren in einer kleinen Runde darauf hinwies, dass sich die damals zum Teil (noch) geplanten Einkaufszentren in der Peripherie von Visp und Brig mittel- und langfristig negativ auf die Stadt- oder Dorfzentren auswirken würden, hat man dies damit abgetan, dass dies die freie Marktwirtschaft sei. Dem konnte ich mich voll und ganz anschliessen. Allerdings muss man dann (leider) auch damit leben, dass Geschäfte in den Innenstädten zugehen. Verstärkt auch durch den Online-Handel, der vor 20 Jahren in dem Ausmass wohl noch nicht vorauszusehen war. Die Schliessung der Wii Stuba an der Briger Bahnhofstrasse Anfang Woche wurde also bereits vor zwanzig Jahren irgendwie beschlossen.

Was ist passiert?

In Brig – wie auch in vielen anderen Stadtzentren in der Schweiz – schlägt die Industrialisierung 4.0 mit voller Wucht zu. Geschäfte, welche über viele Jahre bestehen konnten, können plötzlich die Miete nicht mehr zahlen oder hören rechtzeitig auf, weil sie sehen, es rentiert sich nicht.

Und dabei hat man sich Mühe gegeben: Die Konkurrenz vor Ort hat man immer im Auge behalten. Gemeinsame Werbeaktionen hat man so weit wie möglich zu seinen eigenen Gunsten zu nutzen. Aber aus irgendeinem Grund sank der Umsatz und der Gewinn Jahr für Jahr.

Wo ist die Rentabilität hin?

Stellen wir uns vor, funktionierende (= rentable) Geschäfte hätten fünf gewinnbringende Artikel im Angebot, sogenannte Cash Cows. Dank diesen Artikeln im Sortiment könnten Sie die gesamten Kosten decken, regelmässig in den Urlaub fahren und ein stressfreies Leben führen. Alle anderen Artikel, die sie auch noch führen, sind nur ein nettes oder ergänzendes Nebengeschäft.

Fällt einer der rentablen Artikel aus dem Sortiment, ist das meist nicht so schlimm, man findet sicher einen Ersatz. Nun sind in letzter Zeit die Cash Cows immer schneller verschwunden und man konnte nicht in nützlicher Frist Ersatz finden, um Marktfähig zu bleiben.

Wohin sind diese «Milchkühe» verschwunden? Man würde jetzt am ehesten daran denken, dass die aus dem Newsletter zitierten Einkaufsketten ausserhalb der Zentren daran Schuld wären. Die haben allerdings auch zu kämpfen mit dem Preiskrieg und den sinkenden Margen.

Die Fotos zeigen die Gründer von Amazon, Alibaba und Netflix. Das sind Firmen, die mit ihren Dienstleistungen und Produkten die Welt verändern. Auch Ihre Welt. Diese grossen Firmen kennen Sie bereits.

Pro Tag werden weltweit rund 250’000 Start-Up gegründet. Das sind pro Jahr 1 Milliarde Start-Ups (ca. 10 Millionen dieser Start-Ups können nach dem ersten Jahr überleben). Diese wollen etwas vom Kuchen haben und versuchen, Produkte oder Dienstleistungen schneller, besser und/oder unkomplizierter an die Kunden zu bringen. Diese Firmen versuchen, an Ihre «Milchkühe» zu kommen.

Während Sie gedacht haben, die Konkurrenz liegt in derselben Stadt, im selben Kanton oder im selben Land oder sogar auf demselben Kontinent, ist die Konkurrenz schnell und stark gewachsen und für Sie unsichtbar. Sie können nicht warten, bis es besser wird.

Die Konkurrenz ist sehr schnell und agil (im Sinne von wendig) unterwegs. Sind sie es als Firma nicht, verschwinden sie sehr schnell vom Markt, ohne darauf reagieren zu können. Auf Agilität können Sie nur mit Agilität antworten. Das heisst: Bisher gültige Regeln sind gebrochen.

Was macht die Politik?

Was für die Firmen bezüglich der Industrialisierung 4.0 gilt, würde auch auf politischer Ebene gelten. Man könnte sich z.B. an folgender Idee orientieren:

Politik 4.0: Der Staat erschliesst die Infrastrukturen der Zukunft und gibt zu verstehen, dass alte Strukturen behutsam fallen gelassen werden.

Orientiert man sich an dieser Idee, könnte man zu folgender Erkenntnis gelangen (ein Beispiel für die Gemeinde Brig aus meiner Sicht als ehemaliger Einwohner):

Die Stadt war ursprünglich ein Zentrum für Wirtschaft, Bildung und Kultur und war dadurch ein attraktiver Anziehungspunkt für die Bevölkerung der umliegenden Gemeinden. Die Stadt verwandelt sich nun schleichend in eine Wohnstadt und verliert dadurch nach und nach an Bedeutung. Arbeitsplätze sind vermehrt ausserhalb des Stadtzentrums zu finden. Die Menschen verbringen ihre Freizeitaktivitäten mehrheitlich ausserhalb des Zentrums. Touristen bereisen Brig vorwiegend in geführten Touren und nutzen nur noch einen Teil der verfügbaren Infrastruktur. Die Bevölkerung macht ihre Einkäufe, so diese denn noch notwendig sind, vorwiegend mit dem Auto und fährt damit direkt zu parkplatzfreundlichen Einkaufszentren. Für Einkäufe und Ausflüge nutzt die Bevölkerung das grenznahe und günstige Domodossola, das mediterrane und grössere Sitten, das etwas urbanere und an einem See gelegene Thun.

Angenommen, Sie würden teile diese Aussage mit mir teilen und eventuell ebenfalls beobachtet haben: Müsste die Stadt nicht auch einen Beitrag leisten? Könnte sich die Stadt nicht fragen, ob sie noch ein Zentrum mit Kleingewerbe und Restaurants will, welches zu einem Besuch einlädt? Was will die Bevölkerung? Wer aus der Politik verspricht, ebenfalls in diese Richtung zu ziehen?

Die Stadt wird in den nächsten vier Jahren ihre Verschuldung von heute rund CHF 5 Mio auf rund CHF 30 Mio anheben: Die Stadt wird viel Geld investieren. Die Schulden sind so niedrig, weil über Jahre nur in das nötigste investiert wurde. Betrachten wir die Hauptinvestitionen und weisen diese den Bereichen Wirtschaft, Bildung und Kultur zu, finden wir folgendes Bild vor:

  • Neue Schulräumlichkeiten (Bildung)
  • Gesetzlicher Kostenbeitrag an Schulen (Bildung)
  • Sportanlagen (Wohnen)
  • Bodenkauf für Spital (Wirtschaft)
  • Gemeindestrassen (Wohnen)
  • Dorfplatzgestaltung Glis (Wohnen)
  • Abwasser-/Wasserversorgung Brig-Glis (Wohnen)
  • Alternative Energien (Anergie/Photovoltaik) (Wohnen)

Die Aussage soll nicht den Anschein erwecken, dass die Investitionen falsch sind. Es fällt auf, dass überproportional viel in den Bereich «Wohnen» investiert wird. Zu «Wohnen» zähle ich der Einfachheit ebenfalls Aspekte wie: Infrastruktur, Begegnung-/Erholungszonen sowie Sportstädten. Dies, da dies vor allem der Wohnbevölkerung zugutekommt und von dieser genutzt wird.

Treffen wir die Annahme, dass Wirtschaft, Bildung und Kultur nach wie vor wichtig sind für die Stadt und man diese Werte beibehalten möchte, könnte man folgenden Leitsatz für die Gemeinde formulieren:

Brig-Glis erschliesst die Infrastrukturen der Zukunft für Wirtschaft, Bildung und Kultur. Es wird laufend geprüft, wie unnötig gewordene oder schlecht genutzte Infrastruktur neu verwendet werden kann.

Was kann das Gewerbe tun?

Wer ein kleines Geschäft betreibt muss sich überlegen, ob der Mietpreis noch zeitgemäss ist. Er kann verhandeln oder umziehen. Teure Preise wegen einem hohen Ladenmietpreis werden Ihre Kunden kaum akzeptieren; es gibt zu viele Alternativen und es wird noch viel mehr Alternativen geben.

Artikel, welche zum Spotpreis über einen grossen Versandhandel bezogen werden können, gehören nicht mehr in das Sortiment. Nehmen Sie solche Produkte trotzdem ins Sortiment auf, weisen Sie die Preisgestaltung transparent aus. Der Konsument hat kein gutes Gefühl, wenn Sie ihm ein Produkt für CHF 50.- anbieten, welches er über Aliexpress für CHF 2.- inkl. Versandkosten beziehen könnte. Ein asiatischer Shop, verfügbar in deutscher Sprache notabene.

Digitalisierung ist mehr als «Ich kann nun ein PDF via E-Mail verschicken.» oder «Ich habe nun auch einen Online-Shop.». Kundendienst, also der Dienst am Kunden sieht anders aus als «Rufen Sie mich nächste Woche an, dann sage ich Ihnen, ob es geliefert wurde.»

Sie wollen als Firma Geld verdienen und überleben? Tun Sie was dafür! Sieht der Kunde nicht ein, warum er bei Ihnen mehr bezahlen sollte als anderswo, wird er nicht mehr bereit sein, mehr dafür zu zahlen. Zu einfach und unkompliziert sind die Alternativen.

Mögliche Verbesserungen:

  • (Liefer)service: Seien Sie ehrlich mit sich. Selber abholen weil die passende Grösse oder der Artikel nicht im Laden verfügbar ist und dieser bestellt werden muss? Grobe, sperrige Artikel wie Milch im Multipack, Kartoffeln oder TV-Geräte mit dem Bus transportieren? Schaffen Sie es, ein Smartphone so sicher wie möglich einzurichten? Was würden Sie als Kunde machen?
  • Faire/Transparente Preise: Warum nicht explizit darauf hinweisen, wenn überhöhte Margen als Service verlangt werden müssen, weil diese nicht mehr zum Kerngeschäft gehören? Es gibt sie noch, die Kunden, die dafür bereit sind zu bezahlen. Ich bin überzeugt: Transparenz währt hier am Längsten.
  • Exklusives Sortiment: Vorsicht vor Produkten, die überall erhältlich sind. Ihr Angebot wird austauschbar und Sie als Geschäft werden gezwungen, günstiger zu werden oder auf den Artikeln liegen zu bleiben. Das können Sie sich nicht leisten.
  • Teure Mieten: Welchen Mehrwert bringt der Standort dem Kunden?
  • Produktwissen: Sind Sie Warenbewacher oder Verkäufer? Kennen Sie Ihre Produkte oder müssen sie vor dem Kunden in der Gebrauchsanleitung nachlesen?
  • Flachbildschirmrückseitenberatung: Welchem Mehrwert erbringen sie gegenüber dem Kunden? Was weiss Ihr Kunde dank Ihnen besser, als wenn er 10 Minuten oder länger googelt?
  • Produktqualität: Fabrikbrot ist austauschbar. Handelt es sich noch um einen echten Drucker oder ist das Teil eigentlich eher ein Briefbeschwerer? Wie sicher ist der Router?
  • Kundensegmente: Bieten Sie für jedes Kundensegment wie z.B. «sparsam» oder «wenig Nutzer» immer die höchstmöglichste Qualität zu diesem Preis an. Nur das Beste (im entsprechenden Preissegment) ist Ihnen für Ihre Kunden gut genug.
  • Partnerschaften!!! Sie müssen nicht alles selber machen. Vernetzen Sie sich, werden Sie offen. Nicht ihr Geschäftsnachbar ist Ihr Konkurrent, sondern die Vielzahl an Start-Ups – verteilt auf der ganzen Welt – sind Ihre Konkurrenz!

Leider sind diese Vorschläge keine Garantie für Erfolg. Stimmt das Umfeld nicht, können manchmal sämtliche Bemühungen zwecklos sein.

Was kann der Staat (die Gemeinde) tun?

Die Gemeinde kann das Gewerbe und den Handel dadurch unterstützen, indem es ein «Biotop» schafft, welchen den Ansprüchen der Zukunft genügt. Gingen früher die Menschen einkaufen und dafür in einen Laden, wollen Sie heute ein Einkaufserlebnis haben. Ging man früher in die Stadt, um ein paar Leute anzutreffen, will man ein Freizeiterlebnis und Entspannung haben. Dabei können folgende Aspekte interessant sein:

  • Ein ansprechendes, nicht zu lautes Zentrum.
  • Ein Zentrum, bei dem sich auch Nichtturnschuhmenschen wohl fühlen (Bieten Sie Alternativen zu Pflasterstein-Wegen, so sie solche haben).
  • Auto- und Busfrei wo sinnvoll (denken sie an Alternativen für Anwohner).
  • Ein Zentrum, welches Lebensqualität und Ferienstimmung vermittelt und zum Verweilen einlädt.
  • Ein Zentrum, welches Lust auf Shoppen vermittelt.
  • Unkompliziert werden und bürokratische Prozesse laufend vereinfachen.

Als Exekutives Mitglieder in einer Gemeinde:

  • Vernetzten Sie sich mit anderen Zentren und tauschen Sie sich laufend mit diesen aus.
  • Gehen Sie eigene Wege, die zur Stadt oder dem Ortsbild passen.
  • Überprüfen Sie selbstkritisch und laufen, ob sich die Gemeinde noch auf Kurs befindet.
  • Warten Sie nicht, bis sich Gewerbe ansiedelt. Überlegen Sie laufend, welche Firmen in Ihre Gemeinde passen könnten und gehen Sie aktiv auf diese Firmen zu.

Agiles Denken als Lösungsansatz

In der Softwareentwicklung muss man sich bereits seit längerer Zeit laufend auf Veränderungen einstellen. Daher sind dort viele Konzepte, um auf Veränderungen zu reagieren, in Form von agilen Methoden und Denkhaltungen entstanden. Übersetze ich diese Konzepte für die Wirtschaft und die Politik, kann ich in etwa folgende Empfehlungen abgeben:

  • Fokussieren Sie sich auf die veränderten Bedürfnisse der Bevölkerung/Kunden.
  • Behalten Sie die Trends der Informationstechnik im Auge und passen Sie sich laufend diesen Trends an: Social, Mobile, Analytics und Cloud.
  • (Er)schaffen Sie Werte (nicht Denkmäler).
  • Bleiben Sie reaktionsfähig (investieren Sie laufend und rechtzeitig).
  • Arbeiten Sie interdisziplinär (Alleine wird es schwierig). Teilen Sie sich wo sinnvoll die Kosten.

Werden wir gemeinsam besser, schneller und unkomplizierter.

Inspirationen/Links

Empfehlen
  • Facebook
  • Twitter
  • LinkedIN
Share
Antwort hinterlassen