Wenn Werte strömen

Vorwort

Kürzlich habe ich eine Diskussion aufgeschnappt, bei der Mitarbeiter gestritten haben, weil sie mit ihrer Arbeit an Grenzen des Zulässigen stossen. Entscheide werden an Stellen gefällt, die nicht verstehen, was sie entscheiden müssen. Diese schieben dringende Entscheide vor sich hin und bremsen so das gesamte System (die Firma) aus.

Sie können im Team gerne agil werden; wenn das Management nicht mitmacht, endet dieses Vorhaben schnell in Frustration.

Konflikte müssen auf der Stufe ausgetragen werden, wo Einfluss darauf genommen werden kann. Das ist nun mal die Stufe Management, will (oder muss) man einen agilen Weg für die Firma einschlagen.

«Nur das Management kann ein System verändern.»
– W. E
dwards Deming

Absurde Vorstellung

Als ich einem befreundeten Ingenieur vor ein paar Jahren erzählte, dass in der Informatik häufig Techniken wie «Kanban» zum Einsatz kommen, hat ihn das sehr amüsiert.

«Thomas, Du weisst schon, dass Kanban eine Methode der Produktionsprozesssteuerung ist? Das Vorgehen orientiert sich am tatsächlichen Verbrauch von Materialien am Bereitstell- und Verbrauchsort. Was wollt ihr steuern? Den Bleistiftverbrauch?»

Ganz schön absurd, «Materialkarten» in der Informatik zu verwenden. Oder?

Adaption

Kanban wird z.B in der Informatik verwendet, um die Anzahl paralleler Arbeiten zu begrenzen, um damit kürzere Durchlaufzeiten der Arbeiten zu erreichen. Das mag erst mal absurd tönen. Die Verzettelungsgefahr ist gross, wenn viele Arbeiten gestartet werden, ohne sie in nützlicher Frist abzuschliessen. Werden zu viele Vorhaben parallel gestartet, kann sich Durchlaufzeit der Vorhaben ins Unendliche ziehen.

Mit Kanban will man Verschwendungen reduzieren. Daher gibt es einen einfachen Kanban-Guide, der die Methode für die Informatik adaptiert und die Philosophie übersetzt. Und nein, Materialkarten werden keine geschrieben. Tätigkeiten werden tatsächlich auf einem Zettel geschrieben und durchlaufen einen Prozess.

Das bisherige Wissen ist nicht komplett ungültig geworden. Dieses Kanban-Beispiel habe ich aufgenommen, weil ich immer wieder feststelle, dass Menschen zwar die Methoden kennen, sich aber nicht vorstellen können, wie man diese Methode für sich nützlich adaptieren könnte. Sie können sich von ihrem bisherigen Wissen nicht lösen oder nur schwer vorstellen, dass dieses Wissen auch für andere Tätigkeiten von Nutzen sein könnte.

Die Verlängerung der Werkbank

Wer sich mit Modellen wie SAFe bereits beschäftigt hat, der ist sicher schon über das Wort «Wertstrom» oder «Value Stream» gestolpert. Wer an die betriebswirtschaftliche Methode zur Verbesserung der Prozessführung in Produktion und Dienstleistung denkt, liegt grundsätzlich nicht so falsch.

Motivation

Der Grund, weshalb man sich nach Wertströmen organisieren will, ist einfach: Die Firmen wollen (oder müssen) die Zeit bis zur Wertschöpfung beschleunigen.

Dies tun sie, indem sie den Wertfluss durch das System als Ganzes optimieren. Denn ein Unternehmen, das kein klares Bild davon hat, was es wie liefert, kann sich nicht verbessern.

Eigentlich tönt das Ganz einfach und simpel. Sie werden im Artikel erfahren, wo die Knackpunkte liegen und weshalb das zwar einfach tönt, aber viele sich verzetteln.

Adaption

Im Prinzip macht man im agilen Kontext das Gleiche. Viele Unternehmen tun sich schwer, die Frage zu beantworten, was ein Wertstrom in ihrem Kontext eigentlich ist und wie man den gestalten könnte. Die verteilten und historisch gewachsenen Organisationen verschleiern und machen intern blind.

«Würde man das Unternehmen neu gründen, wäre es einfacher.»; höre ich ab und an. Und genau das tun wir in diesem Beispiel.

Sherlock Value Stream

Dieses Beispiel ist fiktiv. Die beschriebene Vision werden Sie in ähnlicher Form im Internet bei Unternehmen finden.

Vision 1.0

Die Unternehmensvision beschreibt, was ein Unternehmen in der Zukunft erreichen will. Sie ist auf einen längeren Zeitraum ausgelegt und fasst die Strategie, die Werte und die Kultur des Unternehmens in prägnanter Form zusammen.

Daher fangen wir bei der Suche an diesem Punkt an.

Bei einem Bankinstitut habe ich in etwa folgende Vision gefunden:

«Wir sind die führende Retailbank in der Schweiz»

Wie beurteilen Sie diese Vision:

  • aus Sicht Verwaltungsrat: Wissen Sie, wie Sie diesen Erfolg messen werden?
  • aus Sicht Führungskraft: Wissen Sie, wie Sie führen müssen? Welche Ziele geben Sie Ihren Mitarbeitern?
  • aus Sicht Mitarbeiter: Wissen Sie, was zu tun ist?
  • aus Sicht Kunde: Wissen Sie, was Sie erhalten, wenn diese Vision erreicht wurde? Was ist ihr Nutzen?

Motivation als wichtiger Motor

Warum ist die Reinigungskraft bei der NASA motivierter als bei uns?

Was denken Sie: Was würde die Reinigungskraft als Antwort geben? Was macht sie den lieben langen Tag bei der NASA?

Auflösung
(klick mich)
«Nun, Mr. President, ich helfe dabei, einen Mann auf den Mond zu bringen.»

Was ist Ihre Aufgabe bei Ihrem Arbeitgeber/ Ihrem Unternehmen? Mitarbeiter verwalten? Artefakte erstellen? Reklamationen abarbeiten? Umsatzziele erfüllen? Gewinn feststellen? Einfach nur Chef sein?

Wofür steht das Unternehmen? Will es gefällig sein? Wie arbeiten Sie in Ihrem Gremium? Harmonisch?

Sind Unternehmensvision und Unternehmensstrategie gefällig, ist dies sicher komfortabel für das Management. Harmonie in allen Bereichen, könnte man meinen.

Reibung

Ich weiss nicht, wann dieser Trend aufgetreten ist: Irgendwann hörte ich Geschichten, die in etwa folgendem Muster glichen:

  1. Das Management ist zerstritten.
  2. Man ist sich nicht einig bezüglich der Strategie.
  3. (Manager werden gezwungen, einen Kurs mit Titeln wie «Positiv kommunizieren» zu besuchen.)
  4. Es herrscht Harmonie.
  5. Gestritten wird ab sofort nur noch unter den Mitarbeitern.

Die Harmoniesucht im Management geht so weit, dass kein einziges kritisches Wort gefällt wird. Hört man diesen Menschen zu, kommt das Gefühl hoch, sie seien einer Gehirnwäsche unterzogen worden:

«Vermutlich haben wir in diesem Bereich leichte Schwächen und müssten uns verbessern; aber eigentlich leisten alle Mitarbeiter super Arbeit und alles ist gut.»

Was denken Sie? Passiert noch etwas in dieser Firma oder wird sie nur noch verwaltet?

Reibung ist wichtig. Ich rede nicht von Streitereien, nach denen man sich nicht mehr in die Augen sehen kann. Wenn alle immer nur nett sind in der Firma und jede Idee von jedem in der Firma «grossartig» finden, dann sieht das nach aussen harmonisch aus. Im Unternehmen herrscht Stillstand.

Da können Sie noch so viele coole agile Projekte ins Leben rufen.

Der erlösende Knall

Als ich vor einigen Jahren einen Workshop zum Thema «Mitarbeiterbindung» geführt habe, wählte ich einen systemischen Ansatz für den zweitägigen Workshop.

Ich war von Führungskräften umgeben, die pure Harmonie und Ausgeglichenheit untereinander ausstrahlten.

Der Workshop lief nach einem Modell ab mit dem Ziel, das Wissen dieser Menschen abzuholen. Ein Nebeneffekt: Die Teilnehmer lernen von den anderen. Was kann da schon schief gehen?

Lernen ist schmerzhaft

Weil es in der Vergangenheit angenehmer war, über unangenehme Themen nicht zu sprechen, hörte man einfach damit auf, darüber zu sprechen. Jeder Teilnehmer hatte für sich seine eigene Wahrheit zusammengereimt. Unter den Teilnehmern trat eine Art Schock auf. Es wurde laut.

Dazu müssen Sie folgendes verstehen: Jeder dieser Teilnehmer wollte nur das Beste für die Firma und für alle. Wenn diese Menschen plötzlich feststellen, dass Sie mit Ihrem Verhalten nicht im Sinne der Firma handeln, löst dies einen grossen Schock aus.

Die Sprachverwirrung löst sich auf

Plötzlich verstehen sich die Teilnehmer. Wo Person A bisher kein Problem sah, anerkennt sie nach dem Workshop, dass dies für die Firma oder Person B durchaus ein Problem ist.

Man redet wieder miteinander und kann von der Intelligenz des Kollegen profitieren. Es ist unglaublich, was für tolle Ideen im Management entstehen können, wenn die Leute nur miteinander reden und sich nicht aus Scheu vor Konflikten zurückziehen.

(Novus)Vision

«Wir sind die führende Retailbank in der Schweiz»

Welches Feedback bringt Sie weiter?

  1. Grossartige Vision! Wahnsinn! Kann mich voll damit identifizieren! Toll.
  2. Irgendwie sagt die nichts aus. Sind wir nicht schon Nummer eins?

In vielen Firmen werden Sie als Mensch gemieden, wenn Sie die Aussage zwei wählen. «Wie können Sie nur sowas sagen?»

Natürlich ist alles, was von den grossen Denkern im Management auf Papier gebracht wird, Gold.
Merda d’artista
Lesen Sie die Geschichte zu «Merda d’artista» und erfahren Sie, wie Gold mit Künstlerscheisse gleichgesetzt wird.

Kritik an der Vision

Es hilft, Kritik mit einer gehörigen Portion Humor anzunehmen. Es hilft, sich selbst als Person nicht zu ernst zu nehmen. Im Gegensatz zu «Feedback» kommt Kritik auch dann, wenn Sie nicht möchten, dass Sie oder Ihr Werk kritisiert werden.

Wenn Sie tatsächlich finden, das Resultat sei die bestmögliche Leistung: Ignorieren Sie die Kritik. Sie können in diesem Fall nichts damit anfangen.

Sollten Sie an Ihrem Resultat bereits die geringsten Zweifel haben: versuchen Sie zu verstehen, was da genau kritisiert wird und weshalb.

Wer Grosses leisten will, darf sich nicht verzetteln. Kritik könnte ein Indiz sein, dass die Vision nicht verstanden wird. Eine unverstandene Vision nützt niemandem etwas.

Vision formulieren, ein neuer Versuch

Wie bereits im Beitrag «Die agile AnarchieⒶ» beschrieben, orientiere ich mich bei Formulierungen von Visionen am «Vision Canvas» (Zip-Datei Vorlage «Vision Canvas» ). Es gibt viele weitere Methoden, die Ihnen helfen, etwas Wirkungsvolles zu formulieren; Sie werden z.B. fündig bei Strategyzer.

Grundsätzlich sollte die Vision folgende zwei Fragen beantworten:

  • Was ist Ihre Motivation für die Entwicklung des Produkts?
  • Welche positive Veränderung soll es bewirken?

Hypothese formulieren

Für mobile, moderne Menschen mit Wohnsitz in der Schweiz, die standardisierte Finanzleistungen (Einlagengeschäfte, Kreditgeschäfte oder Transaktionen im Zahlungsverkehr) nutzen wollen oder müssen, ist das Angebotspaket der Bank <Utopia> der schnellste, unkomplizierteste und verlässlichste Begleiter, ein vollautomatischer, diskreter und sicherer Dienst, das sich voll auf die Bedürfnisse des Kunden ausrichtet und automatisch die optimale Lösung für den Kunden wählt.

Anders, als die <Mitbewerber im Retail Banking> macht unsere Lösung dies automatisch für unsere Kunden.

Der mit «Methoden» vertraute Leser wird feststellen, dass ich hier unter Zuhilfenahme einer Satzschablone eine Hypothese erstellt habe.

Mission

Über diesen Umweg finde ich es einfacher, Mission und Wertstrom abzuleiten. So schaffen wir uns eine Basis, die sich zu kritisieren lohnt:

Wir wollen unser gesamtes Firmen-Wissen und Know-How einsetzen, um damit für unsere Kunden das schnellste, unkomplizierteste und verlässlichste Retail-Banking anzubieten und den Kunden mit dieser Leistung ein treuer und begehrter Begleiter zu sein.

Wie beurteilen Sie diese Mission:

  • aus Sicht Verwaltungsrat: Wissen Sie, wie Sie diesen Erfolg messen werden?
  • aus Sicht Führungskraft: Wissen Sie, wie Sie führen müssen? Welche Ziele geben Sie Ihren Mitarbeitern?
  • aus Sicht Mitarbeiter: Wissen Sie, was zu tun ist?
  • aus Sicht Kunde: Wissen Sie, was Sie erhalten, wenn diese Vision erreicht wurde? Was ist ihr Nutzen?

Wertstrom ableiten

Aus einer guten, auf der Management-Ebene akzeptierten Mission, mit der sich alle identifizieren können, lassen sich Wertströme zusammen mit der formulierten Hypothese leichter ableiten. Ich definiere daraus drei mögliche Wertströme mit folgenden Titeln:

  • Wertstrom 1: «Schnelle und unkomplizierte Geschäfte und Transaktionen»
  • Wertstrom 2: «Sichere und rechtlich einwandfreie Geschäfte und Transaktionen»
  • Wertstrom 3: «Automatische Kostenoptimierung für den Kunden»

Die von mir erschaffene fiktive Firma wird eine Gesamtlösung entwickeln und ihre Geschäftstätigkeiten vollkommen an diesen Wertströmen ausrichten. Die Titel der Wertströme reichen noch nicht. Für die Präzisierungen der Inhalte kann folgendes Raster verwendet werden: «Development value stream canvas».

Ob die überarbeitete Geschäftsidee auch tatsächlich funktioniert, lässt sich testen. Ideen dazu finden Sie in folgendem Buch: «Testing Business Ideas: Mit kleinem Einsatz durch schnelle Experimente zu grossen Gewinnen»

Schlussfolgerung

Die agile Welt mit ihren einfachen und schlanken Modellen bietet hervorragende Hilfsmittel an, um die Firma neu auszurichten und zu fokussieren. Haben Sie früher in Silos gearbeitet, werden Sie künftig in einem Wertstrom arbeiten oder für einen Wertstrom als Dienstleister zuarbeiten.

Die Fragestellung „Welchen Mehrwert schaffe ich mit meiner Leistung für wen?“ hilft für die Fokussierung.

Warum ist der Mitarbeiter in Ihrer Firma motivierter, als wenn er in anderen Firmen arbeiten würde?

Ihr Mitarbeiter, der einem Wertstrom zugeordnet ist, wird künftig vielleicht sagen können:

«Ich helfe, dass Bankgeschäfte schneller und unkomplizierter werden.»

Das hört sich wesentlich motivierender an als «Ich automatisiere die Tests für eine App.»

Es heisst, dass zufriedene Mitarbeiter sich stärker für den Unternehmenserfolg einsetzen. Probieren sie es aus.

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